Verobachten

 

2. Platz beim Krimiwettbewerb der Deutschen Diabetes-Hilfe und dem Diabetes-Ratgeber (2012/13) zum Thema „Tödlicher Zucker“. Erschienen in der Februarausgabe 2013

 

Diabetes Preisverleihung

Verobachten!“ Das Wort schwirrte in Hannos Kopf herum.
Peter - gestern - sagen!
„Verobachten!“
Nein - anders! Dummes Gehirn - verdammter Schlaganfall!
Ungeduldig saß Hanno am Fenster und schaute hinüber zum Haus seines Freundes. Dort brannte Licht.
Peter daheim - rüberkommen!
Draußen war es schon dunkel, und Hannos Gesicht spiegelte sich in der Glasscheibe.
Aristo- irgendwas, sagte Inge immer. Früher - vielleicht. Jetzt - sabbernder Depp - schiefer Mundwinkel.
Mit der linken Hand zupfte Hanno die Falten seines samtenen Morgenrocks glatt, während die rechte Hand leblos an seiner Seite baumelte. Hinter Peters Fenster bewegte sich der Vorhang.
Hanno kniff die Augen zusammen. Jemand zog daran. Da - eine Hand! Die Hand verschwand. Und dann sah er ihn: Peters Kopf - doppelt! Hanno erschrak: Augentäuschung?
Nein, der Vorhang verdeckte jemanden. Peter stolperte rückwärts, ganz so, als hätte ihn jemand gestoßen.
Nur ganz kurz sah Hanno eine Gestalt in rotem Pullover mit einem langen, schmalen Gegenstand in der Hand. Im nächsten Moment wurde sein Freund zu Boden gerissen.
„Peter!“, schrie Hanno entsetzt. „Peter!“
Hinter ihm wurde die Wohnzimmertür aufgerissen. „Um Himmels willen, Hanno - was ist los?“ Seine Frau eilte zu ihm.
„Peter! Da!“ Hanno zeigte mit zitternder Hand aus dem Fenster. In dem Moment wurden im Haus gegenüber die Rollläden heruntergelassen.Verobachten 400
„Ja, er sollte schon längst hier sein!“, sagte Inge verärgert. „Ich muss los!“
„Nein, nein!“ Hanno war aufgebracht. „Peter ...“‚ aber das entscheidende Wort ließ sich einfach nicht packen.
„Ich rufe ihn jetzt an!“‚ sagte Inge ungeduldig.
„Nein, du rufen ...“ Doch auch das Wort Polizei entglitt ihm wieder.
Verdammter Mist! Früher - bei Gericht - scharfe Zunge.
Hanno seufzte.
Anderes Leben!
Ärgerlich hackte seine Frau auf die Tasten des Telefons. „Kommst du endlich?“, sagte sie in die Muschel ohne einen Gruß. „Vergessen? Du wolltest doch Hanno heute Abend Gesellschaft leisten. Beeil dich!“ Sie knallte den Hörer auf die Gabe und eilte in den Flur. Hanno folgte ihr im Rollstuhl.
„Peter!“, setzte er erneut an und suchte nach dem passenden Wort, doch stattdessen entwischte ihm das Wort „Gabel“.
„Ja, Hanno, ich habe euch Schnittchen gemacht.“ Inge öffnete die Haustür.
Gleich darauf konnte er einen schwarzen Schatten erkennen, der die Straße überquerte.
Nicht Peter!
Die Gestalt trat in den Lichtkegel der Hauslaterne.
„Peter?“ Hanno spürte, wie erstaunt er klang.
Mit wirrem Haar und schief geknöpfter Jacke kam Peter zur Tür herein. „’tschuldigung“, murmelte er und befingerte seine Brusttasche, aus der sein dicker, roter Insulinpen ragte.
Hanno nickte.
Doch! Das war Peter!
„Guten Morgen!“‚ sagte er.
Inge nahm ihre Handtasche. „Macht euch einen schönen Abend!“ Und schon fiel hinter ihr die Tür ins Schloss.
„Brotschnitten“, sagte Hanno und rollte zurück ins Wohnzimmer, wo ein Teller voller Schnittchen auf dem Couchtisch stand.
Peter zögerte, bevor er das Zimmer betrat. Dann jedoch ging er geradewegs auf das Fenster zu. „Du kannst in mein Wohnzimmer sehen“‚ stellte er fest.
Hanno dachte an die zwei Gesichter und schüttelte lieber den Kopf. Sein Freund setzte sich und griff nach der Fernsehzeitung. Vergeblich suchte Hanno in Peters Augen nach der Angst, die er am Tag zuvor noch bei seinem Freund gespürt hatte. Er räusperte sich. „Heute laufen“, versuchte er, seinen Freund an den vereinbarten Spaziergang zu erinnern.
„Was?“‚ fragte Peter und blätterte die Zeitung durch.
„Der Park, da wir - du - äh, sagen, ja sagen. Immer verobachten!“
Peter blickte kurz auf und griff nach dem Flaschenöffner. „Wie wär’s mit ’nem Bierchen?“
Hanno schüttelte den Kopf. „Was verobachten?“
Peter legte die Zeitung beiseite und sah ihn an. „Was hast du gesehen?“ Er sprach nun betont langsam.
„Was verobachten?“, versuchte Hanno es erneut.
„Jetzt sag schon!“, zischte Peter.
Hanno hielt inne. „Nichts.“
Peter ungeduldig - warum?
Sein Freund zuckte mit den Schultern und schaltete den Fernseher ein.
Hanno sah sich auf die Finger, beobachtete, wie sie auf seinem Schoß gegen den Strich des Samtstoffs fuhren. Mit einem Mal entstanden Buchstaben vor seinen Augen, die sich dunkel gegen das Schimmern des Stoffes abhoben. „Beobachten, verfolgen.“ Er spürte, wie die Sätze näher kamen. „Ich werde verfolgt. Man beobachtet mich!“ Doch Hanno bekam nur leere Worthülsen zu packen.
Peter stand auf und griff nach der Bierflasche. Sein Handrücken befand sich vor Hannos Augen. Eine dicke, wulstige Narbe zog sich über die Haut.
Das ist nicht Peter!
Im selben Augenblick trafen sich ihre Blicke. Der Mann, der nicht Peter war, zog hastig die Hand zurück, öffnete die Bierflasche und schenkte ihnen ein. Hanno beobachtete, wie er trank. Schnauzer - dunkel, Hose - alt, Hemd - bunt. Typisch Peter!
Der Mann zog den Insulinpen aus seiner Jackentasche und drehte ihn in der Hand hin und her. „Du hast mich heute Abend am Fenster gesehen - oder?“‚ fragte er plötzlich.
„Was?“
„Du hast mich am Fenster gesehen!“
Hanno zuckte mit der Schulter. Er hatte ihn verstanden, doch ...
„Was hast du noch gesehen?“
„Du, dich, nur dein ...“ Hanno tippte sich an den Kopf. „Da und weg!“
„Sonst nichts?“ „Nein!“‚ log Hanno.
Der Mann warf ihm einen misstrauischen Blick zu, ging erneut zum Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit.
Hanno bekam Angst. Automatisch griff er sich an den Hals, tastete nach seinem mobilen Hausnotruf- doch da war nichts. Er sah sich um. In Reichweite lag ein Brieföffner, der Offiziersdolch seines Vaters.
Nein - albern!
Trotzdem packte er den Dolch mit der Linken und schob ihn in die Tasche des Morgenmantels. Der Mann ließ den Rollladen herunter und drehte sich um.
„Was Peter?“‚ fragte Hanno.
„Ich bin nicht Peter“, sagte dieser ruhig.
„Nicht Peter? Heißt du?“
„Stephan!“ Er kam näher, in seiner Hand immer noch den Insulinpen.
„Ich wollte meinen Bruder gar nicht umbringen - ehrlich“, sagte der Mann, der nicht Peter war.
Der Pen war nun direkt vor Hannos Augen.
Umbringen! Mit diesem Dings da ...?
Ja, umbringen mit ... Insulin!
Hanno spürte sein Herz rasen.
Angst!
Stephan ging zur Terrassentür. „Der alte Geizkragen, nur tausend Euro sollte er mir borgen“, murmelte er und ließ auch dort die Rollläden herunter.
Hannos Blick fiel auf eine Illustrierte, die auf der Anrichte lag und ein kleines graues Etwas verdeckte - seinen mobilen Hausnotruf!
Vorsichtig beugte er sich zur Seite.
Mit einiger Mühe bekam er das Halsband zu fassen. Schnell ließ er das Gerät in einer Falte seines Morgenmantels verschwinden.
Peters Bruder drehte sich um. „Es war ganz einfach.“ Er drückte einen Tropfen Insulin aus dem Pen heraus. „Ich wollte ihn nicht umbringen, aber er ließ mir ja keine Wahl.“
Hanno fixierte den Pen, während er versuchte, mit der linken Hand den Knopf unter der Falte zu drücken, doch das Gerät rutschte weg.
„Für meinen Bruder gab es mich schon lange nicht mehr.“ Stephan stand jetzt direkt vor Hannos Rollstuhl, betrachtete den Insulintropfen an der Nadel und sprach eher zu sich selbst.
Fieberhaft tastete Hanno nach dem Gerät. Seine Fingerspitzen berührten das Band. Er zog daran, und diesmal gelang es ihm, den Knopf zu drücken.
„Hier spricht die Hausnotrufzentrale“, ertönte es aus dem kleinen Kasten im Flur. „Wie können wir Ihnen helfen, Herr Lohmeyer?“
Erschrocken sah Stephan sich um. Mit zwei Schritten war er im Flur.
Hastig tastete Hanno nach dem Dolch.
„Herr Lohmeyer, können Sie ...“ Das Kästchen verstummte.
„Keine gute Idee, du Krüppel“, zischte Stephan und stürmte auf Hanno zu. Grob rammte er ihm den Pen in den Oberschenkel. Hanno spürte den Stich.
Jetzt, jetzt, jetzt!, wirbelte es in seinem Kopf. Mit einer Kraft und einer Geschwindigkeit, die er sich niemals zugetraut hätte, schoss seine Hand mit dem Dolch hervor und stach zu. Er hörte Stephans Aufschrei, bevor er über ihm zusammenbrach. Ein auf - und abschwellender Ton machte sich in Hanno Innerem breit - oder kam der Ton von draußen? Er wurde lauter - eine Sirene?
Hanno schob Stephan von sich. Überall war Blut. Sein Blick irrte zwischen dem Dolch, Stephans verzerrtem Gesicht und dem blutroten Pen in seinem Oberschenkel hin und her. Zitternd zog er ihn heraus.