Das Frühstück
1. Platz beim
5. Literaturwettbewerb von Literatenohr e.V. (Mai 2002) zum Thema „Böse Körper und Gestalten“
Sie saß am Frühstückstisch, schenkte dem Offizier Kaffee nach, lächelte. Seinen Erzählungen lauschend, bemerkte sie nicht, wie sich sein Unterteller mit der schwarzen Flüssigkeit füllte. Bewegt war sein Leben. Zwei Weltkriege hatte er miterlebt, ihr Gefährte. Als sie den Kaffeesee sah, war es zu spät. Schon spürte sie seine Augen, die ihre Hände mit finsteren Blicken straften. Sie biss sich auf die Unterlippe, stellte die Kaffeekanne ab, gleich neben der auf Stanniolpapier ausgebreiteten Schokolade.
Mit niedergeschlagenem Blick griff sie nach dem Suppenlöffel, tauchte ihn in die Konservenbüchse und löffelte ihre Suppe aus. Der Offizier ließ sich von dem Kaffeemalheur nicht lange beirren. Seine Heldentaten schwirrten weiterhin durch den Raum, setzten sich auf ihre Schultern und drückten sie in das fleckige Polster des Stuhls.
Nach einer Weile blickte sie über den Rand der Konservenbüchse hinweg, blieb an seiner Matrosenuniform hängen.
Wie gut sie ihm steht, dachte sie und betrachtete die Orden an seinem abgewetzten Kragen. Bunt waren sie, mit vielen Clownsgesichtern.
Die Suppe war kalt. Egal!
Ein Marmeladenbrot?
Sie griff nach dem verklebten Glas, war sich nicht sicher, ob der Offizier hinter seiner Kaffeetasse nickte. So zog sie das Marmeladenglas vorbei an Gläsern mit eingetrockneten Saftresten.
Kein Brot da!
Ein Löffelchen steckte tief in der Marmelade und kicherte. Mit steifen Fingern versuchte sie es zu packen. Lachend entglitt es ihr, verschwand noch tiefer im Inneren des Glases, suhlte sich in dem blutroten Gelee wie in duftigen Federbetten. Am Glasrand blieb es kleben. Vergeblich versuchte sie es herauszuziehen.
Als sie aufblickte, beobachtete sie der Offizier aus seinen schwarzen Knopfaugen. Mitleid, wie sie das hasste. Gleich würde er versuchen, ihr zu helfen. Sie wich seinen Augen aus, in denen sie sich spiegelte, und betrachtete stattdessen seinen uniformierten Arm. Braun-gräulicher Webpelz lugte unter dem Stoff hervor. Verschossen, Narben eines bewegten Lebens. Die Matrosenmütze saß ihm keck, ein wenig schief auf dem Kopf. Sie zog die Finger aus dem Glas, blutrot.
Hinter der Mütze entdeckte sie das Bild. An der Küchenvitrine hing es in der Glastüre. Sie konnte seinen Hinterkopf sehen, seinen Rücken. Wer hatte ihr das Bild nur aufgehängt? Dunkel war es und durchsichtig.
Der Tisch gedeckt zum Frühstück. War es überhaupt ein Bild? Schemenhaft schien dahinter ein Kaffeeservice mit Rosendekor zu schimmern.
Gleich darauf bemerkte sie die Frau mit dem verfilzten Haar. Sie starrten sich an.
Erschrocken griff sie nach einem Stück Schokolade. Das Stanniolpapier rutschte zur Seite. Darunter lag ein Zettel. Die Schokolade noch kauend, tauchte sie den Suppenlöffel wieder in die Konservenbüchse.
„Komme dich holen – Gruß, Irene!“
Sie drehte den Zettel auf den Kopf als verberge er noch eine weitere Nachricht.
Kenne keine Irene. Ihre Finger verschmolzen mit dem Stiel des Suppenlöffels wie Schweißnähte. Das war doch ihrer, ebenso wie dieser Stuhl, auf dem sie jetzt noch saß. Der Suppenlöffel wurde ihr schwer, glitt zurück in die Büchse. Die Schweißnaht löste sich.
Erneut griff sie nach dem Löffelchen im Marmeladenglas. Kichernd wich es ihr aus. Sie blickte auf ihre verklebten Finger die über den Zettel strichen.
„Komme dich holen – Gruß, Irene!“
Kenne keine Irene! Auf dem Zettel waren jetzt rote Marmeladenstreifen.
„Sie werden kommen!“
Der Offizier hatte eine Weile geschwiegen. Nun ließ sie seine Stimme zusammenzucken. Seine schwarzen Knopfaugen starrten sie an. Wer hatte dieses Bild nur aufgehängt? Sie betrachtete es sich genauer.
Ein prall gepackter Koffer lehnte am Tischbein.
Ohne auf ihre zitternden Finger zu achten, nahm sie erneut einen Löffel Suppe. Tropfen fielen auf ihre Bluse, gesellten sich zu all den anderen Flecken. Als sie es bemerkte, hatten sie sich tief in das Gewebe eingesogen.
Dumm! Sie wischte die Flecken mit den Fingern bereit.
Das Lachen des Löffelchen setzte sich in ihrem Kopf fest. Aufdringlich, das kleine Ding. Es drückte sich an die Glaswand. Ihre steifen Finger wollten es packen, doch wieder entglitt es ihr.
„Bestrafe es!“
Die Stimme des Offiziers klang ruhig. Er starrte sie weiterhin an. Wie sie seinen überheblichen Blick doch hasste, und so las sie erneut die dicken Drucklettern des Zettels.
„Komme dich holen – Gruß, Irene!“
„Ertränke es!“
In seinen abgrundtief runden Augen spiegelte sie sich verzerrt, konnte sehen, wie ihre Finger nach dem Marmeladenglas griffen. Zwei übergroße Hände, die zupackten.
„Ertränke es!“
Sie stand auf und trug das Glas hinüber zur Spüle.
Ich will seine klugen Ratschläge gar nicht hören, dachte sie. Das Marmeladenglas schwebte über der Spüle, bereit jeden Moment fallen gelassen zu werden.
Ertränken, ertränken, ertränken! Seine Worte tanzten in ihrem Kopf. Mit beiden Händen drehte sie das Glas herum. Die Marmelade und das Löffelchen glitten in die Spüle.
Er neigt zu Übertreibungen, dachte sie. Das Löffelchen lachte laut und schallend. Es lacht mich aus. Sie blickte auf den blutroten Haufen.
„Warum zögerst du noch?“
Seine Stimme schmiegte sich sanft an die Innenseite ihrer Schläfen. Nein, sie wollte ihn nicht beachten. Stattdessen betrachtete sie das Bild in der Vitrine. War da nicht eben noch eine Frau mit verfilztem Haar? Nun stand dort das Porzellanservice mit Rosendekor.
„Ertränke es!“
Sein Befehlston sprang durch ihren Kopf, prallte an der Innenseite ihrer Schädeldecke ab wie ein Gummiball.
„Mach schon, mach schon, mach schon!“
Sie hielt sich die Ohren zu. Seine Stimme wurde nicht leiser.
„Ertränken, ertränken, ertränken!“
Sie konnte seine kugelrunden Knopfaugen spüren, wie sie sich durch ihre Schädeldecke bohrten. Langsam streckte sie die Hand nach dem Wasserhahn aus. Das Lachen des Löffelchen verstarb. Stille breitete sich in ihrem Kopf aus, nur einen Augenblick. Dann sein Flüstern.
„Dreh ihn auf!“
Ich will doch gar nicht. Sie umfasste den Wasserhahn, drehte ihn auf, bis es nicht mehr ging. Wasser schoss in das Becken. Es wird überlaufen! Sie drückte den Stöpsel tief in den Ausguss. Das Becken füllte sich. Blutrote Marmeladenflöckchen kreiselten gleich darauf auf der Wasseroberfläche. Dazwischen das Löffelchen. Immer wieder geriet es unter den Wasserstrahl, ging unter, tauchte auf, nur um gleich darauf erneut untergetaucht zu werden. Sie konnte sehen, wie das Wasser stieg. Es war kein Lachen mehr zuhören.
Der Offizier forderte eine weitere Tasse Kaffee. Aber das Wasser steigt doch, dachte sie. Gleich wird es überlaufen. Warum muss er immer so zu Übertreibungen neigen?
Und schon lief ein feiner Wasserfaden die Schranktür entlang, bildete am Fuß der Spüle eine kleine Pfütze. Das Wasser fraß ich über das klebrige PVC. Sie beugte sich mit schmerzendem Rücken ein Stück nach unten. Kaltes Wasser sog sich in ihre Pantoffeln. Alt, vorne kam ihr Zeh heraus. Wer sagte ihr so oft, sie solle die neuen anziehen? Das feine Rinnsal war nun ein kräftiger Wasserfall.
„Bekomme ich endlich meinen Kaffee?“
Er wollte seinen Kaffee haben, sollte sie sich da nicht ein bisschen beeilen? Sie warf noch einen Blick auf die Spüle. Wird ja alles nass.
Wieder forderte der Offizier seinen Kaffee. So schritt sie aus der Pfütze hinaus. Ihre Schuhe waren schwer vor Nässe. Sie schenkte ihm nach. Das Gewicht der Kanne ließ die Adern ihre Hand dicker hervortreten. Der Kaffee floss und floss. Längst stand seine Tasse inmitten eines riesigen Kaffeesees. Ihre Augen aber wichen seiner Befehlsmiene aus.
Vor dem Fenster fielen große Schneeflocken. Sie blickte auf den Apothekenabreißkalender. Unter einem Eichhörnchen stand der 15. Juli. Warum schneit es im Sommer? Welcher Tag ist heute, Montag oder Donnerstag?
Doch der Offizier fordert ihre Aufmerksamkeit zurück. „Du hast meine schöne Uniform ruiniert!“ Aus seinen kugelrunden Augen kullerten die Vorwürfe. Sein Matrosenanzug hatte sich vollgesogen mit schwarzen Kaffee. Hastig nahm sie ihm die Tasse weg. In der Eile stolperte sie. Es spritzte, überall Scherben. Der Kaffee vermischte sich mit dem ansteigenden Wasser.
Eine Weile betrachtete sie sich die Scherben vor ihren Füßen, ging dann hinüber zur Küchenvitrine.
Wo war das Bild geblieben? Wo war die Frau mit dem verfilzten Haar? Wer hatte das Bild nun wieder abgehängt? Sie strich mit ihren Fingern über das Glas, hinterließ eine klebrige Spur.
Als sie den Griff der Türe packte, pochte es. Die Glastüre klirrte beim Öffnen. Sie nahm eine Tasse heraus. Wieder pochte es. Die Schranktüre ist locker, dachte sie und ruckelte ein wenig an ihr. Doch es klirrte nur. Sie packte die Tasse fester, sah sich um, traf auf den Blick des Offiziers. Lächelte er?
„Jetzt kommen sie. Ich hab's ja gesagt. Sie kommen und sie wollen dich holen.“
Seine schwarzen Augen funkelten.
Wie zur Bestätigung mischte sich unter das basslastige Pochen nun noch ein Schellen, laut und schrill, fast schon rhythmisch. Ein Duett, das auf sich aufmerksam machte.
Das ist nicht die Glastüre. Sie ruckelte ein wenig an der Vitrinentür. Das Schellen wurde wütender, das Pochen auch. Von tief unten kam es, begleitet vom Plätschern des Spülenwasserfalls.
Abwartend blickte sie den Offizier an. Der lächelte immer noch, rechthaberisch.
„Gib mir meinen Kaffee!“
Aber es läuft doch über.
„Es wird sie ertränken. Lass es nur laufen!“ Seine Augen betrachteten sie nun freundlich.
Dankbar stellte sie eine saubere Tasse vor ihn. Diesmal achten sie darauf, dass der Kaffee nicht überlief. Sie setzte sich. Gemeinsam betrachteten sie das Wasser, wie es sich Stück für Stück den Küchenfussboden eroberte, lauschten dem Duett aus Pochen und Schellen, das vehement Aufmerksamkeit forderte. Verwundert bemerkte sie nach einer Weile, dass sich noch eine dritte Stimme dazu mischte. Triolen hüpften durch den Klangteppich. Es war ein Klingeln. Das Telefon, es war das Telefon. Nein, sie würde nicht dran gehen. Nie ging sie ans Telefon. Weiterhin starrte sie auf das Wasser.
Werden sie kommen? Nicht durch das Wasser, oder?
Sie warf ihm einen Blick zu. Nickte er? In seinen schwarzen Augen konnte sie sich sehen. Ganz weit hinten saß sie, klein und winzig. Sie nahmen sich ein Stück Schokolade, spürte wie kalt ihre Füße waren. Das Wasser reichte mittlerweile bis unter den Tisch. Über die Spüle lief rauschend der Wasserfall. Auf diesem glitt nun das Löffelchen hinunter. Sein weißer Plastikgriff ließ es auf der Wasseroberfläche treiben. Es gab keinen Ton mehr von sich, trieb nur noch zwischen blutroten Marmeladenflöckchen. Es ist zu laut. Sie hielt sich die Ohren zu. Viel leiser wurde es nicht. Dafür schwang sich das Lachen des Offiziers wie ein Obertongesang über das nur etwas dumpfer klingende Trio.
„Siehst du das Löffelchen?“, sagte der Offizier. „Sie werden alle ertrinken!“ Dann lachte er wieder.
Doch gleich darauf wurde das Konzert übertönt. Wie ein unsauberer Misston durchbrach ein Martinshorn den Klangteppich. Von weit her hörte sie Stimmen. Das Pochen, das Schellen, die Stimme, das Martinshorn, das Telefon. Es war zu viel. Diese Stimmen, sie schüttelte den Kopf.
„Hallo, Mama! Ich bin's, Irene. Mach bitte auf!“
Sie blickte über den Tisch. Dort saß der Offizier vor seiner Kaffeetasse, lächelte nur noch, die Beine weit von sich abgespreizt, sein Webpelz kaffeegetränk.
„Mama, Mama?“
Die Stimme schraubte sich in die Höhe. Dazu das Pochen, Klingeln, Schellen, das Martinshorn.
„Mach auf, Mama!“
Sie drückte sich die Hände noch fester auf die Ohren. Der Offizier saß immer noch unberührt vor seiner Kaffeetasse, lächelte still. Kopfschüttelnd versuchte sie die Stimmen aus ihrem Kopf zu vertreiben. Das Wasser fraß sich Welle für Welle in den Flur hinein. Ihr war kalt. Sie schlang die Arme um sich, schaukelte ein wenig. Es wurde nicht wärmer. Der Offizier regte sich nicht.
Unter all den Lärm mischte sich plötzlich ein weiteres Geräusch, fein und scharrend. Die Tür sprang auf. Dort standen sie, weiße Gestalten, leichenblass. Erschrockene Blicke, die sich trafen, einen Augenblick lang. Sie wusste es.
Jetzt kommen sie mich holen!